Eine Zeitkapsel

Einen wunderbaren Spielfilm, über den ich hier im Tagebuch auch schon geschrieben und den ich seither bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal gesehen habe, ist “Leb wohl meine Königin!“. Faszinierend finde ich an diesem Film seine Aura, also – ist schwer zu beschreiben:
Es herrscht die Zeit der Französischen Revolution, der Umbruch wurde gerade erst so richtig spürbar sogar im abgelegenen und abgeschotteten Versailles. Noch leben König und Königin, doch alles ist bereits in Auflösung begriffen. Wir schauen in diesen Film aber nicht als wissende Menschen der Zukunft quasi von oben herab auf jene Zeit, sondern wir erleben aus Sicht der Dienstboten insbesondere aus dem Erleben der fiktiven Vorleserin der Königin, was geschieht.
Tausende Menschen standen in Diensten des Hofs seiner Zeit, über die meisten von ihnen ist nichts mehr bekannt. Es sind namenlose Menschen, so wie auch wir in der Zukunft namenlose und vergessene Zeugen unserer eigenen Zeit sein werden.
Aus dem Nichts taucht Sidonie Laborde, die Vorleserin der Königin Marie Antoinette auf, niemand weiß etwas über ihre Vergangenheit, und ins Nichts verschwindet sie am Filmende auch wieder. Dieses Ende, begleitet durch die Stimme der Synchronsprecherin Anne Helm, ist für mich der stärkste Moment des ganzen Films. In ihm liegt die Quintessenz, offenbart sich all die gesamte melancholische Magie dieses cineastischen Meisterwerks. Dabei spielt Léa Seydoux ihre Rolle, ich will mal sagen, so natürlich und dadurch genial wie ein Herbstblatt im Wind; die sensationelle Regie von Benoît Jacquot weiß durch Romain Windings Kameraführung jede noch so geringe Mimik der Hauptdarstellerin unglaublich ausdrucksstark in Szene zu setzen, so dass der Film beinahe ohne jedes gesprochene Wort auskäme. Die Aufregung des Hofstaats, die aus heutiger Sicht enorme Bildungsferne und Naivität, die Lebensumstände der Bediensteten, all das wird nur nebenbei skizziert, doch es fügt sich zu einem Gemälde, das umgeben von einer Aura der Melancholie einer längst vergangenen Zeit diese für einen kurzen Moment auferstehen lässt und uns einen Blick auf ein namenloses Schicksal gewährt, das mich immerzu aufs Neue an diesen Film fesselt. 
Und trotzdem beschreiben meine Worte nicht im Geringsten jenes in mir erzeugte Gefühl. Schaue ich auf meine Filmliste und sehe den Titel, so erfasst mich ein Schauer, der zu einem tiefen Seufzer führt, und der den Wunsch “ach, diesen Film könnteste dir doch nochmal anschauen” augenblicklich zum Ziel meiner Sehnsucht macht – ja, es handelt sich um eine melancholische Sehnsucht, die dieser Film zum Ausdruck bringt oder die er bei mir als Zuschauer hervorruft. Sehnsucht wonach? Das könnte ich nicht einmal sagen. Weltschmerz? Nein, das trifft es nicht, denn die Melancholie, die ich durch den Film empfinde, ist durchweg positiver und zärtlicher Natur.
Somit kann ich wieder ausgerechnet das, was mir wirklich sehr wichtig ist, partout nicht ausdrücken. Ein Dilemma dieses Tagebuchs seit über 20 Jahren. Allein die Kraftvergeudung bleibt übrig. Nunja, auch Malerinnen und Maler sollen oft schier verzweifeln bei den Versuchen, ein Gefühl oder das Innere visuell darzustellen. Dies in passende Worte zu kleiden, ist mindestens genauso schwierig. Vielleicht gelingt es mir beim dritten Mal in ein, zwei Jahren besser, wer weiß.
Schönen Montag und bis morgen.