„Was machen Sie denn hier?”, lautete meine Frage an die unbekannte junge Frau, die plötzlich am Fußende meines Bettes stand. „Wer sind Sie?” Die Frau war in eine alte braune Wildlederjacke gehüllt, die sie über eine rote Bluse trug. Sie war verantwortlich für mein Erwachen. Stelle dir bitte mal so etwas vor: du liegst im Bett und öffnest deine Augen, da steht an deinem Bett ein fremder Mensch und schaut dich an. Hallo? Ihre dichten langen Haare wurden mehr schlecht als recht von einer Mütze verborgen, das heißt, an mehreren Stellen quollen Haarsträhnen hervor. Die Mütze war ebenfalls aus einem schon abgegriffenen Stoff gefertigt und erschien wie eine alte Arbeiter-Kopfbedeckung aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Das ganze Outfit der Frau tendierte retromäßig in diese Richtung. Eine weite schwarze Hose und braune grobe Ledertiefel rundeten dieses Bild ab.
Frau: „Entschuldigen Sie mein Eindringen. Ich bin Journalistin. Eine alte Frau hat mir Ihre Wohnungstür geöffnet. ‚Treten Sie sorglos ein‘ ermunterte sie mich, ‚Georg wird wohl noch im Bett liegen, doch wecken Sie ihn ruhig auf‘, meinte sie.”
Ach, sieh an, meine Mutter! Nun liegt sie schon ein halbes Jahr lang unter der Erde aber immer noch erscheinen ihre übergriffigen Unverschämtheiten im Traum. Gerade so, als habe sie diese hier im Leben einfach zurückgelassen wie andere einen alten Koffer oder einen Regenschirm.
„Und was machen Sie hier?”, fragte ich die Frau während sich der aus dem niedrigen Bett ächzende Rest meines Körpers unterhalb des Kopfes gleichsam erhob und meine müden Beinknochen wie automatisiert in eine auf dem Boden vor dem Bett abgelegten ausgeleierten schwarzen Jogginghose schob. „Reichen Sie mir doch bitte mal das T-Shirt”, sagte ich. Die Frau hob es sodann mit spitzen Fingern vom Boden auf. „Das?”, fragte sie mit einer deutlich angewiderten Mimik eines beginnenden Ekels in ihrem jungen Gesicht. „Ja, genau das! Wenn Sie hier schon ungefragt eindringen und mich aufwecken, ist das wohl nicht zu viel verlangt. So dreckig ist das Shirt gar nicht, was Sie sehen sind nur Nutellareste von gestern. Süß und lecker,” gab ich patzig zur Antwort. Fehlte auch noch, mich für einen solchen Übergriff nett anzuziehen. „Also was wollen Sie von mir? Und wer sind sie überhaupt?”
„Mein Name ist Bernadette Luetgel und ich schreibe hauptsächlich für den ‚Rheinischen Traum-Boten‘. Der Chef vom Dienst hat mich hierher beordert, um quasi live vor Ort die Auswirkungen Ihrer Durchblutungsstörungen mitzuerleben. Sie glauben sicher, Ihre kalten Füße rührten von einer verrutschten Decke und den frischen herbstlichen Temperaturen, doch sie sind in Wahrheit Folge eines augenblicklichen starken Absackens des Blutdrucks, was in Verbindung mit den altersbedingten Störungen Ihres Kreislaufs jederzeit zu Ihrem Ende führen könnte.”
„Ach?”, stellte ich staunend fest, „woher wollen Sie das denn wissen?”
„Sie waren es doch selber, der durch sein neues Smartphone ‚Mata Hari‘ Tür und Tor zum Ausspionieren Ihrer Lebensumstände an völlig fremde Leute freigegeben hat. Nun, ich gehöre zu ihnen, und mein Chef plant eine Reportage über die letzten Minuten im Leben eines Schwurblers und allgemeinen Medikamenten-Kritikers als angsterregendes abschreckendes Beispiel für die Allgemeinheit. Dazu bin ich hier. Dass ich Ihnen jetzt auch noch Ihr verdrecktes T-Shirt reiche, glauben Sie mir, das war nicht vorgesehen. Können Sie nicht einfach ohne viele Worte weitersterben?”
Nachdem ich den zweiten Socken übergestreift hatte und den ebenfalls schlabbrigen Hoodie, schlurfte ich zur im selben Raum befindlichen Küchenzeile und murmelte fragend die Worte „Tee oder Kaffee?”
Die Blicke der jungen Frau folgten meinen Bewegungen. „Tee”, sagte sie.
Wir schwiegen und ich öffnete die Augen. Meine kalten Füße hatten mich gerade geweckt. Oder war es etwas anderes? Der Raum war dunkel, kein Wasser brodelte, und ich lag noch im Bett. Woher stammte das Traumbild dieser Frau, fragte ich mich, alles andere konnte ich mir zusammenreimen. Als ich später am Rechner saß und über diese Zeilen nachdachte, da erst sah ich sie. Sie ist auf zwei Ölgemälden meiner Mutter abgebildet, die seit 24 Jahren in der Wohnung hängen aber schon so lange von mir dermaßen unbeachtet werden, wie ein einfaches Tapetenmuster an der Wand. Dennoch scheinen beide ihren Weg in mein Unterbewusstsein gefunden zu haben. War es nun eine mystische Rettung in letzter Sekunde oder hat einfach nur das Gehirn den Körper mit sicherem Gespür für die richtigen Bilder aufwachen lassen, um den Blutdruck wieder in Gang zu setzen?
Geheimnisse des Alltags sozusagen. Und bis morgen in diesem Theater. Noch ist die woke Welt mich nicht ganz los.