Es ist schon eine verzwickte Sache, wenn ich in solch schrecklichen Zeiten wie gerade heute mit alltäglichen Banalitäten, Vergnügen oder persönlichen Dingen und Befindlichkeiten daherkomme. Die einen werfen mir dann eine mangelnde Empathiefähigkeit vor, die anderen unterstellen mir gar mögliche Ablenkungsmanöver, um den Terror und die Probleme der Welt unter den Teppich zu kehren. Dass beides nicht der Fall ist, weißt du als regelmäßiger Besucher dieses Tagebuchs.
So brutal es sich auch anhört, das Leben verläuft seinen gewohnten Gang. Ist man selber vom Leid betroffen, kann man diese Teilnahmslosigkeit nicht verstehen: Wie kann die Sonne jeden Morgen aufs Neue über die wunderschönen herbstlich-nebligen Felder unberührt vom Elend der Welt so zauberhaft aufgehen? Wie kann man sein Frühstück genießen, in den Gleichklang lauten Kinderlachens einstimmen oder interessiert einen komödiantischen Film anschauen? Warum steht die Erde nicht still, raubt einem doch das pure Entsetzen darüber, was Menschen anderen antun, den Atem und nimmt einem alle Lebensfreude?
Die Erde saugt jedes vergossene Blut auf und irgendwann wird nichts mehr daran erinnern. Das ist aber nicht böse, es ist der Lauf allen Seins. Der Alltag schiebt jede Trauer von uns persönlich nicht Betroffenen beiseite. Die Bilder mögen in den Träumen aufblitzen, sich mit anderen Bildern vermischen und im schlimmsten Fall bei einigen Seelen zu psychologischen Krankheitserscheinungen führen, doch für die Mehrheit, im Allgemeinen, dreht sich die Welt als sei nichts geschehen.
Kann man (kann ich) das fürs eigene Leben akzeptieren? Ganz abgesehen davon, dass man keine andere Wahl hat, um nicht im Alltag „unterzugehen”, so gehört die Erkenntnis um das Wesen des Menschen zu den fundamentalen Dingen, die man im Laufe seines Daseins erlernt. Der Mensch kann so wunderbare Dinge tun, voller Liebe und Mitgefühl seinen Mitmenschen und allen Geschöpfen dieser Erde gegenüber, und er kann so unsagbar grausam und brutal handeln in einer Person. Dem Leben auf der Erde aber ist das egal. Wir als Menschheit sind nur ein winziger Teil all dessen und unbedeutend wie ein Sandkorn am Strand. Der einkehrende Alltag nach einer Katastrophe ist weder gut noch böse. Und auch wenn es kitschig und albern klingen mag, so möchte ich mit der erzählten Weisheit aus der Westernserie „1883” heute schließen, denn in ihr liegt all das verborgen, was ich mit dem größten Buchstabengestammel nicht zuwege bringen könnte:
„Die Welt schert es nicht, ob du stirbst. Sie will deine Schreie nicht hören. Wenn du auf die Erde blutest, saugt sie das Blut auf. Es kümmert sie nicht, dass du verletzt bist. Ich sagte mir, wenn ich Gott treffe, wird meine erste Frage an ihn sein: warum eine Welt voller Wunder erschaffen und sie mit Monstern bevölkern? Warum Blumen erschaffen und dazu Schlangen, die darunter lauern? Welchen Zweck erfüllt ein Wirbelsturm? Dann ging es mir auf: Er schuf das alles nicht für uns.”