Etwas über die eigene Befreiung

Ist es nicht seltsam, wie sich alles hin- und herbewegt im Leben: als junge Menschen wohnten wir in einer Studenten-WG, jeder besaß ein eigenes Reich, das eigene Zimmer, der Rest der Wohnung gehörte allen. Großartig und aufregend empfanden wir das gemeinsame Leben auf dem beengten Raum. Nach ein paar Jahren begannen alle Bewohner sich dennoch nach mehr Platz zu sehnen. Die Flugtation der Bewohner fing an. Irgendwann waren sämtliche Gesichter ausgetauscht, auch das meinige verschwand und ein neuer junger Mann genoss das Reich seines Zimmers. Mit meiner Liebsten wurde eine eigene Wohnung bezogen. Wir besaßen kaum etwas an Möbeln, so dass nach dem Einzug die große Wohnung dennoch leer dastand. In der Folgezeit fing der Konsum an auszuufern, regelrechte Wallfahrten nach Ikea fanden statt, bis dass die Wohnung am Ende wieder genauso vollgestopft mit Möbeln und Kram war, wie seinerzeit das beengte Studentenzimmer. Irgendwann danach begannen die Gespräche über Familie und Haus mit unendlich viel Platz. Auch das wurde später realisiert. Das selbe Spiel begann von Neuem.

Nur leider funktionierte es nicht dauerhaft. Scheidung und Trennung rissen die Lebens-WG entzwei wie zuvor die Enge die Studenten-WG. Bis auf kurze Jahre der Unterbrechung blieb ich alleine für mich. Platznot war im Haus aber kein Thema. In den letzten 30 Jahren sammelte sich dermaßen viel Kram an, dass ich den Überblick verlor. Er störte zwar nicht, da er sich gut verteilte, doch immer öfter nahm ich ihn auch als eine Art Belastung wahr. Was will man zum Beispiel im Internetzeitalter mit Tausenden billigen Taschenbüchern, die, wenn du eines aus dem Regal nimmst, bereits zerbröseln (vor allen Dingen bei Rowohlt-Bücher aus den 70er und 80er Jahren aber auch bei anderen der Billigverlage verwest das Papier schon nach 20, 30 Jahren)? Es ist dasselbe wie bei Schallplatten, CDs oder DVDs. Über ein, zwei Dekaden waren sie das Nonplusultra, bevor die fortschreitende Technik sie ersetzte. Für meinen E-Reader besitze ich eine Bibliothek von derzeit 60.000 E-Books, die den winzigen unsichtbaren Platz benötigen, auf dem Einzeller riesige Veranstaltungen und Feiern organisieren.

Zu den überflüssig gewordenen Büchern kommt die Kleidung hinzu, die ich nicht wegwerfen mochte, unnütze Möbel, nie gebrauchte Küchengerätschaften und ein schieres Sammelsurium von Krimskrams der letzten 50 Jahre. 95 Prozent von all den Dingen blieben Staubfänger und wurden nie mehr benutzt.

Das nur mal grob und ziemlich gerafft erzählt der Vorstellung halber.

Jetzt stehe ich vor all dem Zeug und werde mich locker von ¾ verabschieden. Es ist eine bis jetzt unvorstellbar große Aufgabe, die ich angehe, doch du wirst es vielleicht kaum glauben, ich freue mich riesig auf diese Art einer Entschlackung. Durchweg erlebe ich beim Packen der Kartons aber dem Zurücklassen der meisten Dinge Gefühle einer neugewonnenen Unabhängigkeit. Losgelöst vom Ballast der vergangenen Jahrzehnte wieder aufs Wesentliche reduziert zu sein, das ist ein überwältigendes Gefühl von Freiheit. Die materielle Verkleinerung führt zu einer geistigen Erweiterung ungeahnten Ausmaßes.

Vielleicht fällt mir diese Verjüngungskur auch deshalb so leicht, weil ich schon über 30 Jahre hauptsächlich in der digitalen Welt zu Hause bin. Ein Sammelsurium virtueller Dinge ist nach wie vor vorhanden, doch es nimmt vergleichsweise wenig Raum in Anspruch. Denke an die Film- und Serienarchive. Tausende Stunden Unterhaltung, für die in der analogen Welt ganze Regalwände von CDs und DVDs nötig wären; all das befindet sich auf Datenträgern, die einen Raum von der Größe einer Zigarrenkiste einnehmen.

Sobald der Umzug vollbracht sein wird, bin ich zwar wieder ein, zwei Wochen ohne Internet (mir fehlt die Erfahrung, um sagen zu können, wie lange ein Umzug des Telefonanschlusses letztlich dauert), aber Mata Hari hat ja schon bewiesen, dass damit zumindest teilweise die Offline-Zeit überbrückt werden kann.

Die Zeiten als Jäger und Sammler sind also definitiv vorbei. Es ist sinnlos geworden, Dinge zu horten, wenn Amazon binnen 24 oder oft sogar 12 Stunden selbst benötigte Kleinigkeiten für 2,50 Euro bis an die Haustür liefert. Amazon hat den Versandhandel weltweit revolutioniert. Darüber kann man geteilter Meinung sein, es ist aber heute so, wie es ist. So lange Wirtschaft und Infrastruktur funktionieren, ist eine übertriebene Vorratshaltung unnütz geworden und verschwendet nur den Raum, belegt den Platz zum Ausbreiten der eigenen Flügel. Sollte die Gesellschaft und das Land einmal zusammenbrechen, die Dystopie Wirklichkeit werden, dann hilft dir auch kein Halbjahres-Vorrat mehr, denn dann lernen wahrscheinlich alle Menschen das existenzielle Leben von Grund auf neu. Der Mensch ist anpassungsfähig, und das erstaunlich schnell. „Für schlechte Zeiten”, das galt früher als durchaus berechtigte Devise, trotzdem ist das Gefühl, durch preppern oder ähnliches eine persönliche Unabhängigkeit zu bewahren, ein trügerisches und, wie ich heute glaube, ein falsches Gefühl. Sollte das Land kaputtgehen, hilft es nicht, sich in den eigenen Kaninchenbau zurückzuziehen, sondern dann müssen alle daran mitarbeiten, das Land wieder zu reparieren, es neu aufzubauen. Ein Überleben für Jahre oder Jahrzehnte in einem Atombunker ist kein erstrebenswertes Dasein. Es kann durchaus sein, dass sich deren Überlebende wünschen würden, im Blitz eines Atomschlags gegangen zu sein, als in Depression, Zucht und Ordnung die letzten Jahre verbringen zu müssen.

Natürlich: das ist jetzt ein bisschen weit hergeholt, schon klar. Doch alles beginnt irgendwo im Kleinen; irgendwann kommt immer der Punkt, an dem materieller Reichtum und das Alles-Haben-Wollen ins Gegenteil umschlägt und dich zum Sklaven der Dinge und des Besitzes machen. Dummerweise bemerkt man diesen „Kipppunkt” selten, die materielle Vermüllung schleicht sich förmlich ins Leben unbemerkt ein.

In diesem Sinne der Befreiung demnächst mehr. Gehab dich wohl.

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Nachtrag: Ach, übrigens. Beim Sinnieren über die Vergangenheit flogen die Erinnerungen wieder dicht vor meinem inneren Auge vorüber. Was war eigentlich die glücklichste Zeit in meinem Leben? Eindeutig Mitte der 1990er Jahre. Ich bewohnte eine kleine Dachgeschosswohnung in der Mönchengladbacher Altstadt für 200 Mark Warmmiete. Kein Badezimmer, Außentoilette und eine eigens aufgebaute Duschkabine in der Küche. Der erste Windows-95-Rechner stand in einem mächtigen Turm unterm Schreibtisch und ein 15-Zoll-Röhrenmonitor ließ beim Rattern, Pfeifen und Zischen des Modems meinen Mund vor Faszination offen stehen, als ich die ersten Male in „Broken English” nachts mit jemandem in New York live chattete und wir uns über Star-Trek-Bildchen austauschten. Das erste Handy, ein gigantischer Hundeknochen, und das erste wegen seiner langen Akkulaufzeit wirklich zu gebrauchende Schnurlostelefon eröffneten eine bis dahin unbekannte Welt der zur Realität gewordenen Science Fiction. In der Küche mixte ich Teig und buk Omas Pfannekuchenrezept nach, ein weißer Toaster ohne Glühdrähte, den ich nach wie vor besitze und behalten werde, beeindruckte mich enorm, eine Funk-Küchenuhr, die ich nie mehr nachzustellen brauchte und die bis zum heutigen Tag an der Wand tickt, wobei sie nur alle 8 Jahre eine neue Batterie benötigt, vermittelten das Bild einer vollkommen neuen technischen Zeit. Dazu die neu gewonnene Freiheit wegen des Mauerfalls und der Wiedervereinigung, überall waren die Menschen positiv gestimmt. Frieden und Freiheit schienen plötzlich zum Greifen nah zu sein – all das zusammen ließ den Glauben, nun endlich in einer neuen gerechten Welt zu leben, zur Gewissheit werden. Eine nette hübsche Nachbarin kam bei Abwesenheit ihres Mannes und des Sohnes regelmäßig vormittags zu mir hoch und wir beide genossen das unkomplizierte Vergnügen erotischer Natur, von dem kein Mensch je etwas erfahren hat. Mein Auto war ein ausgedienter Firmenwagen, ein vergammelter VW-T3 Diesel, der mich dennoch nie im Stich ließ. Der ganze Materialismus stand auf Minimum aber trotzdem fühlte ich mich unsagbar reich als Teil einer neuen Welt. Geld besaß ich zu jener Zeit kaum, doch die Lebenshaltungskosten betrugen vielleicht ein Drittel von denen heutzutage. Was ich damit auszudrücken versuche: ich kenne auch die glückliche Welt des Minimalismus – danach schlich sich das „Erwachsenenstreben” mit immer mehr, stets das Neuste und auf Arbeit gefälligst in täglich neuer Kleidung (gesellschaftlicher Zwang) unbemerkt mehr oder weniger ebenfalls in mein Leben.