Eines der Dinge fasziniert mich an den Videos von Frau Huong besonders, nämlich dass sie viele ihrer Tätigkeiten mit bescheidenen Mitteln im Sitzen bzw. in der Hocke ausführt. Ohne Hebebühne schlängelt sie sich geradezu durch manch einen Motorenaufbau und löst die Verbindungen zum Getriebe unter dem LKW hockend. Nachdem diese Arbeiten erfolgreich ausgeführt wurden, sitzt oder hockt sie neben dem LKW und nimmt dort auf dem bloßen Boden die vielen Zahnräder auseinander, reinigt sie und tauscht defekte Bestandteile aus. Ein Stuhl mit Tisch oder eine Arbeitsbank ist weit und breit nicht vorhanden.
Nun könnte man sagen, dieses Hocken sei eine kulturbedingte Eigenschaft der Asiaten, sind sie doch in der Regel körperlich kleiner und erheblich gelenkiger gebaut als Europäer. Das wäre in unserer heutigen Gesellschaft allerdings schon eine recht problematische Aussage, denn hier würde der ein oder andere woke Zeitgenosse schnell den Begriff des Rassismus ins Spiel bringen.
Also habe ich mal nach der „Kulturgeschichte des Stuhls” gegoogelt und bin z.B. auf diese kurze Zusammenfassung gestoßen, die zumindest zeigt, dass unser Sitzen auf Stühlen kulturgeschichtlich eher als neu zu betrachten ist und vor dem Mittelalter unüblich bis unbekannt war. Dauerhaftes Sitzen ist sicherlich keine optimale Körperhaltung, das ist mittlerweile Konsens. Andererseits, so überlege ich gerade, würde ich selber alles oder vieles, was ich im Laufe des Tages so tu und mache, im Hocken oder auf maximal japanischen Sitzmöbeln ausführen, so käme ich kaum mehr hoch auf meine Beine. „Reine Übungssache”, wirft mein Inneres Ich ein. Ja? Ist das wirklich so?
Wenn man Kinder betrachtet, so ist ihr Spiel auf dem Boden die Normalität. Ihr ganzes Dasein fände problemlos dort statt. In der Schule zwingen wir sie auf Stühle und an Tische. Ist das dann in gewisser Weise eine Zwangsentwöhnung ihrer natürlichen Körperhaltung oder eine Zwangsgewöhnung ans Sitzen? Wenn ich an meine eigene Kindheit und Jugend denke, so war das stundenlange Sitzen in der Schule das größte Hemmnis meiner Konzentration und es stand dem Lernen eigentlich diametral entgegen. Die Schulordnung verhindert das Lernen, wenn man es mal so weit herunterbricht. Ginge es ums Lernen allein, so wäre eine Schulklasse ohne jede Sitzmöbel doch geradezu ideal. Also warum zwingen wir uns und unsere Kinder dann auf Sitzmöbel?
Manchmal helfen bei der Beantwortung solcher Fragen die spontanen Bilder, die einen sofort vor dem inneren Auge erscheinen. Was sehe ich zuerst, wenn ich ans Sitzen denke? Zum Beispiel die Fabrikhalle, in der hunderte Tische und Stühle aufgereiht stehen, an denen Näherinnen gebückt sitzen und arbeiten. Oder ich sehe Bilder von Fließbandarbeit. Also könnte es sein, dass die kulturelle Eigenart des Sitzens vornehmlich einer ausbeuterischen Natur des Großkapitals entspringt, wenn ich das mal so drastisch ausdrücken darf?
Weiterhin erscheinen Bilder einer Sitzordnung im sogenannten Bildungsbürgertum vor meinen Augen. Dieses Bürgertum war letztendlich nichts anderes als eine billige Kopie der Hofetikette des Adels. Denke an die Stühle der Esszimmertische jener Zeit, die mit hohen Rückenlehnen unbequem an kleine Throne erinnern. Oder an den Katzentisch, dem Kindertisch, der getrennt von der gemeinsamen Tafel abseits steht und dem erst der beginnende erwachsene Mensch entkommt, der dann unter ständiger Ermahnung „sitz gerade!” erstmalig am Tisch der Erwachsenen Platz nehmen darf.
Gesellschaften in der Vergangenheit, denen die europäischen Höfe, deren Etikette usw. unbekannt waren, hatten sich anders entwickelt. Hat deshalb das Sitzen auf Stühlen in Asien zumindest auf dem Lande eine andere Entwicklung genommen? Entsprechen zum Beispiel die berühmten niedrigen japanischen Sitzmöbel eher einer biologischen Notwendigkeit bzw. Bequemlichkeit?
Zu einer endgültigen Erkenntnis darüber bin ich noch nicht gelangt. Trotzdem finde ich das Thema „Stuhl und Sitzen” ziemlich interessant. Da werde ich also noch weiter googeln.
Sitze auch du den heutigen Werktag gewissermaßen aus, denn ab Übermorgen beginnt schon wieder das Wochenende. Wenn man an Entspannung und ans Wohlfühlen denkt, erscheinen ja schließlich auch hauptsächlich Bilder des Liegens, von Hängematten bis zu Massageliegen, vor dem inneren Auge – sicher aber weniger vom Sitzen an Schreibtischen, auf Kirchenbänken oder an Arbeitstischen. Also in diesem Sinne: Liege dich wohl.