„One World! No Borders!”, so lautet bekanntlich das Credo der links-grünen Wokeness heutzutage, und ich muss gestehen, wenn auch ein wenig beschämt ob der eigenen Naivität, dass ich in meiner Jugend ähnlich dachte. Ähnlich aber nicht identisch. Und nicht fordernd hinausbrüllend, sondern vielmehr als eine philosophische Gesellschaftsfrage für die Zukunft. Also eher als eine Idee, die besprochen werden sollte.
Grenzen bedeuteten in den 1960/70er Jahren für uns Deutsche etwas völlig anderes als nur eine Schranke; der Eiserne Vorhang teilte unser Land, noch gab es keinerlei Auflösungserscheinungen. Wenn ich aus dem Fenster des Zuges beim Durchqueren in eben diese DDR sah, so erhaschte ich ein paar flüchtige Blicke in eine mir vollkommen fremde Wirklichkeit, die sich beim näheren Hinsehen aber doch gleich mit der eigenen darstellte: In den frühen Tagesstunden hasteten unter gelben Laternen der Straßenbeleuchtung Menschen zu ihren Zügen und Bussen, unterwegs zur Arbeit, auf Bänken wartend, lesend, vereinzelte Autos waren zu sehen, der morgendliche Verkehr begann – alles ganz normal aber doch so fremd wie von einem anderen Stern, denn kein Wort durfte mit ihnen gewechselt werden; selbst wenn der Zug mal stand und wartete, es war an Aussteigen, um ein Tässchen Kaffee zu trinken oder ein Schwätzchen zu halten, nicht zu denken. An das Gefühl dieser Absurdität erinnere ich mich als sei es gestern erst gewesen; Grenzen bedeuteten damals nicht alleine Staatsgrenzen, sondern Grenzen komplett anderer Gesellschaften. Aber die Menschen, die Deutschen hier und die Deutschen da, sie waren gleich. Was hat der Alltag mit Politik zu tun?, begann ich mich in jener Zeit zu fragen.
Das war allerdings nicht bloß an der DDR-Grenze so:
Die Grenze zu Holland war ähnlich strikt ausgebaut. Keine Selbstschussanlagen natürlich, so aber doch bewachte Zäune sogar entlang der Grünen Grenze. Als ein Junge, der in 5 Kilometer Entfernung von der Grenze aufgewachsen war, bot diese Grenze ein ebenso absurdes Bild: Wolltest du die Grüne Grenze überschreiten, was wir regelmäßig und oft taten, so wussten wir, dass im schlimmsten Fall auch dort mit Schusswaffengebrauch zu rechnen war. Hüben wie drüben gab es aber unsere sozialen Kontakte, es wurde dieselbe Mundart gesprochen, in der eigenen Familie gab es Holländer, doch quasi Mitten auf der Landstraße von einem Ort zum anderen, musste man eine stark bewachte Grenze überschreiten. Junge 18-jährige, die nicht aussahen wie der artige Schwiegersohn, wurden von den deutschen Zöllnern behandelt wie Kriminelle. Was sich diese dummen Menschen alles herausnahmen, herausnehmen durften, war atemberaubend. Sexuelle Übergriffigkeiten bei damaligen nicht volljährigen Mädchen, Freundinnen, die in meinem Auto mitfuhren, waren noch harmlos, im Vergleich zu dem, was meiner „Ente” geschah, denn sie wurde einmal sogar fast komplett zerlegt mit enormen Folgekosten für mich, und das war nur meiner äußeren Hippie-Erscheinung zu verdanken, die die Grenzer nicht leiden konnten. Deutsche Zöllner besaßen noch eine sagenhafte Macht gegenüber den kleinen Leuten, und die wurden von ihnen je nach Lust und Laune drangsaliert. Wie unwürdig eine Leibesvisitation ist, können sich junge Leute heute nicht mehr vorstellen. Wer einmal nackt vor Grenzern stand und diverse Witze ertragen musste, weiß, wovon ich rede. So etwas war an der holländischen Grenze auf deutscher Seite gang und gäbe. Die holländischen Grenzer waren übrigens nie übergriffig, das nur mal so nebenbei erwähnt.
Was ich damit sagen möchte: Zu jener Zeit zerschnitten Grenzen den Alltag der Menschen ohne jeden Sinn und Verstand. Der Gedanke „No Borders!” war daher ganz und gar nicht naiv, sondern er wurde von der Politik aufgegriffen und die europäischen Grenzen in der Folge gottlob abgeschafft. Die Grenzen zerschnitten einen gemeinsamen Kulturraum, das ist so widersinnig, als würden heute an den Bundesländern wieder Grenzkontrollen eingeführt werden.
In jenen Jahren meiner Jugend boomten die Pauschalreisen. Ganze Gruppen Neckermann-Touristen wurden ins Ausland zu allen möglichen Sehenswürdigkeiten gekarrt. Gedankenlos schlenderten sie in Badeschlappen durch Gemäuer und Gebetshäuser, gleich welcher Religion. Halbnackt beobachteten sie das Alltagsleben der Einheimischen auf diversen Märkten oder sie schauten sich von geschützten Terrassen bei einem genüsslichen Cocktail das Strampeln der Einheimischen ums tägliche Überleben an. Das haben die Touristen nicht aus Böswilligkeit so getan, sondern aus kultureller Unwissenheit, denn der gemeine Mitteleuropäer fühlte sich in einem gigantischen Disney-Land. Der deutsche Reisepass galt über Jahrzehnte als Premium-Papier, das alle Türen der Welt öffnete. Damals gab es also trotz der vorhandenen Grenzen für die meisten von uns „No Borders!”, denn, ach, was kostet die Welt? Wie selbstverständlich lag dem zahlungskräftigen Westler eine grenzenlose Welt zu Füßen.
Natürlich fanden wir junge Menschen diese Arroganz schlimm. Wir verreisten in unserer begrenzten Urlaubszeit individuell, kleideten uns nach Art der Einheimischen und glaubten, solches Anbiedern an die Lebensumstände und Sitten würde die Kluft zwischen arm und reich überwinden. Doch im Grunde genommen war das ebenfalls ein Abenteuerurlaub, denn unser Pass schützte uns vor allzu großer Willkür staatlicher oder halbstaatlicher Repressionen und das Notfall-Rückfahrtticket war bereits im Pass eingepreist.
Was es wirklich bedeutet, „One World! No Borders!”, davon hatte der Normalbürger West-Europas der 1970er Jahre genauso wenig eine Vorstellung wie die Leute heutzutage. Was wir damals und heute im Urlaub erleben, ist nichts anderes als ein Besuch im Zoo. Es gibt etliche gute Science-Fiction-Filme, die dieses Thema mehr oder minder gelungen beschreiben. Die einzigen Europäer, die kompetent davon berichtet haben, was es bedeutet, in einem fremden fernen Land ein neues Zuhause zu erschaffen, das sind die Auswanderer der vergangenen Jahrhunderte insbesondere der großen Auswanderungswellen ins gelobte Land Amerika. Da gab es weder Bürgergeld, noch Smartphones, ein Zurück war meist nicht möglich. Wie man sich „One World!” heute vorstellt, das ist nach wie vor ein Urlaubsparadies: Wohne eine Zeitlang hier oder dort, wo du gerade möchtest, jette hin und her, oder werde zum Globetrotter mit verkümmerten Wurzeln und ganz ohne Heimat. Wer aber den Ort seiner Sehnsucht liebt, Teil des Landes wird, der möchte es auch bewahren; so verwundert es nicht, dass die Aktion, die Einwanderer in aller Herren Ländern immer zuerst gemacht haben und heute noch machen, das Ziehen von Grenzen ist: Kulturelle Grenzen, familiäre Grenzen, religiöse Grenzen, Besitztumsgrenzen, Landesgrenzen.
„No Borders!” bedeutet eben nicht einfach, alle in ein Land zu lassen; so widersprüchlich es auch klingt, das grün-linke „No Borders!” bedeutet mehr Grenzen als jemals zuvor. Wenn wir weiterhin alle in unser Land einreisen lassen, werden wir uns vor lauter neuer Grenzen nicht mehr frei bewegen können.