Um zu erklären, was ich gestern mit „alles hat sich verändert” meinte, muss ich noch etwas vorausschicken. Die Kreisstadt Kleve besitzt keinen zentral gelegenen Marktplatz, sondern eine sogenannte Ober- und Unterstadt, die durch eine Fußgängerzone miteinander verbunden sind. Die Geschäftigkeit einer Einkaufszone war dort früher vorhanden – ganz früher, ich meine vor 40 Jahren. Seit vielen Jahren siechen hier wie anderswo aber die Einzelhandelsgeschäfte dahin, denn auch in Kleve schlossen die großen Kaufhäuser und mangels Publikum nach ihnen die meist als Familienunternehmen geführten Geschäfte, die sich rund um oder in dieser zentralen Einkaufsmeile angesiedelt hatten. Sie werden von den nächsten Generationen nicht mehr weiter geführt, so dass ein langsamer Wandel hin zu dem Bild, das wir aus den meisten Innenstädten heute kennen, zu beobachten war und ist: Von Fachgeschäften zu Dönerbuden oder von Boutiquen zu Herrenfrisören. Handyshops, Sportwetten oder leerstehende Ladengeschäfte sind die Folge. In der Altstadt von Mönchengladbach ist es seit Jahren besonders auffällig: verrottet und heruntergekommen ohne gleichen. All das meine ich aber nicht, wenn ich davon schreibe, heute nichts mehr wiederzuerkennen, denn all dies gibt es schon sehr lange und hat viele unterschiedliche Gründe.
Außerhalb dieser zentralen Klever Fußgängerzonen (oder anderswo der Marktplätze) haben sich neue Zentren rund um Einkaufsmärkte gebildet. Diverse Discounter, gelegen um große Parkplätze herum, ziehen heute die Kunden und das Publikum an wie Magnete, so dass sich auch in deren Umfeld andere Händler ansiedelen, vor allen Dingen die Gastronomie. So auch in Kleve. Gestern besuchte ich McDonalds, nahm draußen bei einem lecker Tässchen Kaffee Platz, hätte aber genauso gut nebenan an einer vielbefahrenen Hauptstraße draußen auf den Stühlen vor einem Laden sitzen können, der Frühstück anbietet. Dort erlebt man heute jenes Treiben der Menschen, die man früher in den Zentren gesehen hatte. Ich saß also draußen und beobachtete die Umgebung. Der besondere Unterschied zu früher lag in der Vielstimmigkeit der Sprachen. Ihn meine ich mit den Veränderungen.
In den knapp anderthalb vormittäglichen Stunden hatte ich nicht einen einzigen deutschsprachigen Menschen gehört. Ob Mitarbeiter oder Laufkundschaft (es war mengenmäßig richtig was los), ein babylonisches Sprachgewirr von Menschen in den unterschiedlichsten sichtbaren physiognomischen oder kulturellen Erscheinungsformen hat dort die Sprache Deutsch faktisch zu 100 Prozent ersetzt.
Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Ich finde dieses Multikulti überhaupt nicht schlimm; es erinnert an Reportagen über New York, die ich gesehen habe und ziemlich reizvoll fand. So etwas bereichert den eigenen Horizont. Es ist einfach die Veränderung zu früher, die mir ins Auge fiel, denn ich fühlte mich nicht wie in einer deutschen Kreisstadt, sondern eher wie im Urlaub in einem vielbesuchten Tourismuszentrum. Aber zu diesem positiven Gefühl gesellte sich natürlich auch jenes der Fremdheit: Im Urlaub befinde ich mich eben nicht zu Hause – aber das dann gestern war tatsächlich zu Hause. Also fremd im eigenen Land, so könnte ich das Gefühl am Besten beschreiben.
Es gab, anders als bei einem Urlaub, kein Zurück mehr nach Hause, denn ich war ja schon zu Hause. Die Heimat ist heute geschrumpft auf den Familien- oder Bekanntenkreis, sie ist nicht mehr das Land, ja, nicht einmal mehr die lokale Heimatstadt. Das ist eine Veränderung, die ich nicht mehr ausschließlich positiv betrachten kann. Denn mit ihr verschwindet auch das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die gemeinsame Sprache verbindet bei allen Unterschieden. Ist sie aber einmal fort, ist man selber der Fremde unter lauter Fremden. Man ist rein faktisch heimatlos geworden. Die Heimat wird zu einem Bild in der Erinnerung, man lebt fortan in der Diaspora.
Das geht natürlich auch, ich meine, uns bleibt ja schließlich nichts anderes übrig, als unseren Platz unter den geänderten Gegebenheiten zu finden, und man kann sowieso immer und überall das Beste daraus machen. Ich möchte also hier gar nichts werten, sage nicht, ob etwas gut oder schlecht ist. Was sich aus dem Verlust der Heimat und der Sprache entwickeln wird, kann ich nicht voraussehen. Wahrscheinlich wird sich die Gesellschaft mehr und mehr in Gruppen oder Clubs zersplittern, in denen die neuen Generationen aufwachsen, die sie dann als Ersatz der verlorenen Heimat der Alten sehen. Das wird sich im Positiven wie aber genauso auch im Negativen zeigen. Also das Experiment, einer Kleinstaatlichkeit durch einen großen Überbau eines Staates zu begegnen bis hin zu einem staatlich geführten Kontinent (EU), scheint das Gegenteil des Beabsichtigten zu erzeugen: Nämlich innerhalb dieses Mega-Staats findet eine Zersplitterung wieder zu immer kleineren Einheiten statt; zuerst kulturell und danach dann politisch.
Das könnte man jetzt fortspinnen: Irgendwann tun sich ein paar kleine Einheiten zusammen und „erobern” andere, wachsen zu größeren Einheiten, wollen unabhängig werden und so weiter. Ein ewiger Kreislauf.
Wie dem auch sei. Mit dem Verlust der Heimat werden aus Erzählungen und der dokumentierten Geschichte in kommenden Generationen neue Sehnsüchte nach „der guten alten Heimat” entstehen. Da aber alle kommenden Generationen im selben Land aufgewachsen sein werden und dieses Land als ihre Heimat betrachten – zudem da alle Gruppen ihre eigenen kulturellen Sichtweisen verwirklicht sehen wollen, das ist immer so der Fall – wird das zu zukünftigen Verwerfungen führen, die heute kaum absehbar sind.
Naja, jetzt kannst du natürlich sagen, ich sei ein Spinner, auf so etwas könne man gar nicht nach einem anderthalbstündigen Besuch bei McDonalds vor der Tür schließen. Kann sein, dass ich spinne. Es ist ein Gefühl, ein Gefühl der Fremdheit, von dem ich schreibe, und wenn ich dieses Gefühl nun mal habe, dann haben andere es ebenso, denn niemand ist so einzigartig, etwas nicht zu teilen. Was daraus in vielen Jahrzehnten dann werden wird, in der Zukunft, wenn ich selber schon längst nicht mehr da sein werde, das ist natürlich nur eine Spekulation.